Die ersten einhundert Tage

Die ersten einhundert Tage

Anthea und Weissensee unter neuer Leitung

 

Wie alles anfing

Als ich Anfang dieses Jahres meine Verlegerin - Frau Stein – besuchte, eröffnete sie mir, dass sie ihren Verlag Anthea nicht weiterführen wird. Das war keine schöne Nachricht. Ich war überrascht von dieser sehr persönlichen Entscheidung. Frau Stein hatte nach dem Tod ihres Mannes Detlef Stein vor drei Jahren den Verlag mit großem Einsatz und Energie weitergeführt – ich hatte das Glück mein Buch „Le nom perdu – der verlorene Name“ bei ihr veröffentlichen zu können.

Noch während des Gesprächs fiel mir mein Neffe Ruben ein. Ich wusste, dass er Literaturwissenschaft, Germanistik und Slawistik studiert, in Potsdam an der Uni arbeitet und tschechische Bücher übersetzt. Und irgendwo, ganz hinten in meiner Erinnerung, dass er mal davon gesprochen hatte, er würde gerne einen Verlag gründen. Also verließ ich das Verlagsbüro mit den Worten: „Bitte überstürzen Sie nichts.“

Alsbald rief ich Ruben an und erzählt ihm von der Geschichte. Er war sofort begeistert und wollte mich ermutigen, das auf jeden Fall zu wagen, toll, eine neue Aufgabe, spannend, super interessant. Und erst nach einer Weile begriff er, dass es bei dem Gedanken Verlagsübernahme nicht um mich ging, sondern um ihn. Ein paar Tage, viele Gedanken und Gespräche später, saßen wir schließlich mit Frau Stein zusammen. Na, und vielleicht übertreibe ich, aber für mich sah es aus wie Liebe auf den ersten Blick.

Frau Stein war begeistert, dass die Ausrichtung des Verlages – Schwerpunkt Mittel und Osteuropa, geographisch und inhaltlich – mit einem Slawisten fortgesetzt werden könnte. Ruben fügte den Zusatz: und darüber hinaus hinzu. Frau Stein bot Ruben und mir ein dreimonatiges Praktikum, wie sie scherzhaft sagte, im laufenden Betrieb an. Eine großartige Möglichkeit die Abläufe des Tagesgeschäftes in diesem Verlag kennenzulernen: Wieviel Porto muss auf das Päckchen? Warensendung ist richtig, oder? Wieviel Prozent Buchhandelsrabatt? Ach, die Wissenschaftsbücher haben einen anderen Rabatt? Okay. Matchcode, EAN, Grossisten, MWSt, Druckkostenanfrage – die Begriffe flogen nur so durch die Luft. Und immer wieder die alles entscheidende Frage: Wo finde ich in den für uns neuen Verlagsräumen das bestellte Buch?

Frau Stein war sehr geduldig und nachsichtig mit ihren Praktikanten.

 

Farbpinsel und Sektgläser

Nun hieß es neugestalten und umstrukturieren in allen physischen und digitalen Bereichen: Die Farbpinsel wurden geschwungen, manch Altes durch Neues ersetzt und Abschiede gefeiert: Verlagsräume und Webseite erhielten ein grundlegendes Makeover, frische Farben und ein neues Logo für Anthea – denn alles sollte für den Übergabetermin fertig sein.

Feierlich wurden die Verträge unterschrieben und mit einem Gläschen Sekt auf eine neue Ära des Anthea und Weissensee Verlags angestoßen und am 1. Juli 2024 wurden die Schlüssel zu den Verlagsräumen übergeben. Es flossen ein paar Tränen der Rührung und des Abschiednehmens, nun lag das Schicksal des Verlags in neuen, jungen Händen.

Neben Ruben gibt es ein nun Team von Mitreiterinnen, die sich um das Tagesgeschäft, PR und Social Media, Layout und Design, Satz und Cover kümmern, die Fragen zu Verträgen und Finanzen im Blick behalten. Eine Gruppe von Menschen, die sich mit ihrer Kreativität, ihrem Wissen, ihren überbordenden Ideen an der (neu) Ausrichtung des Anthea Verlags beteiligen und so die Verlagsübergabe möglich machen.

Musik im Blut

Die erste Woche war kaum vergangen, da stand Siggi in der Tür. Siegfried Trzoß, seines Zeichens Moderator, Texter, HansdampfinallenGassen und, na klar, Autor. Nicht irgendeines Büchleins, nein, es sollte gleich ein ganzes Lexikon über den Schlager des Ostens sein: Musik im Blut – sein Geburtstagsgeschenk, zum 80sten, an sich selbst und alle Fans des Schlagers der DDR.

Und in dieser ersten Begegnung mit Siggi, dieser Naturgewalt an Fröhlichkeit, Charme, Witz und nicht enden wollenden Geschichten und Anekdoten aus der Musikbranche, tauchte die Frage auf, die uns immer wieder begegnen sollte in den nächsten Wochen: Wo kommt ihr her? Ach, aus dem Westen – na dann habt ihr natürlich keine Ahnung davon. Schwupps, waren wir sofort in der gegenwärtigen Diskussion angekommen, gar keine Zeit, sich in irgendeinen Elfenbeinturm abgehobener schöngeistigen Literatur zu verkriechen – knallharte Realität im Herbst 2024.

Ein paar arbeitsreiche Wochen später überbrachte der Postbote das Musterbuch des Lexikons. Unsere Frage war: wie nah dran ist das zweidimensionale Produkt auf dem Bildschirm an der Realität, konnte es mit dem dreidimensionalen des Buches mithalten? Es sind nicht drei, es sind vier Dimensionen, das Gewicht, die Haptik, der Geruch – einfach überwältigend. Staunend, fast ungläubig betrachtend ging das Musterexemplar von Hand zu Hand, wurde gedreht, gewendet, durchgeblättert – das erste Buch des neuen Anthea Verlags lag auf dem Tisch: 596 Seiten, 1100 Gramm schwer, von A bis Z alles drin.

Siggi lud mich dann zu einer seiner Sendungen vom Kofferradio bei „Radio Alex Berlin“ als Studiogast ein, um das Werk, sein Lexikon vorzustellen. Ich muss sagen, Siggi selbst ist ein Lexikon: Was er alles weiß, kein Schlagerstar, zu dem er nicht gleich eine passende kleine Geschichte zu erzählen hat, was er alles in seinem Leben gemacht und erlebt hat – Chapeau! Der Ostschlager ist tot – es lebe der Ostschlager! Ein toller Nachmittag, eine spannende Sendung - ich fands dufte.

PS: Bei nächster Gelegenheit werde ich ihm noch erzählen, wie ich meine erste Single von Nina Hagen und Automobil (auf der A-Seite: Micha, du hast den Farbfilm vergessen) als West-Berliner in der Hauptstadt der DDR gekauft habe.

 

Zeit für Gespräche

Uns haben in den nächsten Wochen immer wieder Autoren und Autorinnen im Verlag besucht. Die meisten hatten nicht nur ein Buch mit Frau und Herrn Stein auf den Weg gebracht. Viele aufregende Biografien, tolle Geschichten, Ideen zu neuen Projekten waren zu hören und Sätze, wie der von Inge Ruth Marcus und Jürgen Beuschel, die sich eingeprägt haben:
„Ich bin in einem Land geboren, dass es nur dreizehn Jahre gab.“
„Nach meiner letzten Vorlesung habe ich erst angefangen zu schreiben.“

Dieser Satz, auf einem kleinen grünfarbigen Einleger in ein Buch eingelegt, hat es mir besonders angetan. Er ist eine Überschrift, so scheint es mir, ein Mantra, dass über der Herstellung von Büchern liegt.

 „Einige Fehler hatten sich im Text gut versteckt.
Bitte schenken Sie ihnen keine Aufmerksamkeit.“

Viele Augenpaare lesen, Menschen, die mit dem Text vertraut sind (spätestens beim zweiten Mal - betriebsblind), andere die einen frischen, unverstellten Blick haben, solche, die das Korrekturlesen zur Profession gemacht haben und viele weitere begabte, neugierige, aufmerksame Augenpaare – und allen gehen Fehler im Text, im Satz und überhaupt, durch die Lappen. Ein Leerzeichen zu viel, eins zu wenig, ein Satz unvollständig, ein Wort doppelt, ein ganzer Absatz der fehlt. Es ist zum Verzweifeln, zum Haare raufen. Und da ist noch kein einziges Wort zum Inhalt und zur Gestaltung, dem Satz gefallen.

Ich hatte das Vergnügen den sechsten Band der Böhme Studien zu betreuen, die im Weissensee Verlag, dem wissenschaftlichen Teil von Anthea und Weissensee, erschienen ist.

Meine ganze Hochachtung gehört dem Setzer. Hier ist die Gestaltung eines wissenschaftlichen Textes, mit all seinen Fußnoten und hochgestellten Ziffern, die Königsklasse, die Meisterschaft des Buchsatzes. Diese äußerste Ruhe und Gelassenheit, die Geduld, die diese Arbeit erfordert, verdient meine höchste Anerkennung. Erst durch diese mühevolle Kleinstarbeit wird ein Text, und damit sein Autor, für den Lesenden verständlich – und wieder ziehe ich den Hut – Chapeau!

Ja, so fing es an und jetzt kommen die nächsten hundert Tage.

Es läuft auch schon das nächste Buch durch die Druckmaschinen. „Am richtigen Platz“ des ukrainischen Friedensaktivisten Maksym Butkevych, der sich derzeit in russischer Kriegsgefangenschaft befindet, wird in den kommenden Tagen ausgeliefert.

 

Gregor

Stellvertretende Geschäftsleitung

 

 

 

 

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